SPELL – Semantische Plattform zur intelligenten Entscheidungs- und Einsatzunterstützung in Leitstellen und Lagezentren
In Deutschland werden über 240 Leitstellen durch Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben betrieben. Notrufe werden von der Bevölkerung über die Nummern 110 für Polizei und 112 für Feuerwehr und Rettungsdienst angenommen. In den Integrierten Leitstellen werden Rettungsdienste, Feuerwehr und Katastrophenschutz gemeinsam disponiert. In sogenannten „Bunten Leitstellen“ ist auch die polizeiliche Einsatzdistribution beinhaltet. Es werden Notrufe entgegengenommen, Einsatzkräfte alarmiert, Einsätze koordiniert und Ressourcen geplant. Ein reibungsloser und einfacher Datenaustausch unter den Leitstellen ist derzeit jedoch nicht wirklich gegeben.
Die Lage
Vor allem bei Großschadenslagen können innerhalb des Einsatzgebietes verschiedene Leitstellen für Notrufe zu einem Ereignis zuständig sein. Bis zu 200 Meldungen laufen zum Teil regelmäßig pro Stunde ein und werden von den Disponenten mit unterschiedlichem Equipment abgearbeitet. Bei größeren Vorkommnissen kann die Zahl der Anrufe in die Tausende gehen. Neben telefonischen Meldungen landen hier auch technisch ausgelöste Meldungen von Brandmeldeanlagen oder Entnahmen von Hilfsmitteln wie Defibrillatoren. Dazu kommen kontinuierliche Datenströme von Wettermeldern, Seismologische Aufzeichnungen und mehr.
Oft werden Leitstellen bei solchen Situationen schnell überlastet, das Personal der selben Leitstelle hat keine gemeinsame Oberfläche für gleiche Vorkommnisse. Benachbarte Leitstellen wissen von Vorfällen und damit verbundenen Erkenntnissen der jeweils anderen Leitstelle wenig oder gar nichts. Sie arbeiten weitgehend isoliert und es gibt keinen Zugriff auf gemeinsame Daten. Erste Schritte wie die Einbindung von sogenannten eCall-Systemen oder die Übermittlung von Daten wie Standort oder Bilder zielen ebenso wie Informationen vonseiten der Leitstellen etwa von bereits im Einsatz befindlichen Ressourcen auf die Zukunft „Vernetzung der Leitstellen und Lagezentren“.
SPELL – „Semantische Plattform zur intelligenten Entscheidungs- und Einsatzunterstützung in Leitstellen und beim Lagemanagement“
Das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz erarbeitet im Projekt „SPELL“ Technologien welche in Zukunft helfen sollen, Daten zentral für die eingebundenen Leitstellen zur Verfügung zu stellen und aufzubereiten. Bereits seit 1. Juni 2021 erarbeiten zwölf Partner eine semantische Plattform zur intelligenten Entscheidungs- und Einsatzunterstützung. Zur Anwendung soll die Plattform in den Systemen von Leitstellen und Lagezentren eingebunden werden. In einem Lageplan zu jedem Ereignis sollen bereits ab 2024 leitstellenübergreifend die aktuelle Situation, Meldungen, eingesetzte Kräfte, Ressourcen und Kräfte auf Anfahrt dargestellt werden können. Jeweils im Leitstellensystem integriert, kann SPELL mit Hilfe von künstlicher Intelligenz dem Disponenten bei der Entscheidungsfindung helfen. Situationsgebundene Entscheidungen erkennt SPELL selbstständig, so können automatisch generierte Fragestellungen des Disponenten unmittelbar angepasst werden.
Die im Projekt SPELL eingesetzte Künstliche Intelligenz soll die Koordination von Einsätzen unterstützen und mit seiner Umsetzung nach Abschluss des Projektes einen wichtigen Schritt in Richtung der Digitalen Transformation im Notfall- und Katastrophenmanagement leisten. Als weitere Ziele nennt das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering, IESE, die Weiterentwicklung von Applikationen, welche allgemeine Warnungen, Maßnahmen und Lageinformationen an die Bevölkerung und unterschiedliche Beteiligte gewährleisten sowie eine Notfallkommunikation per Live-Audio, Live-Video oder Live-Chat ermöglichen sollen. Im Projekt SPELL arbeitet ein Konsortium, bestehend aus dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz als Konsortialführer und den Mitgliedern DRK-Landesverband Rheinland-Pfalz e.V., Empolis Information Management GmbH, Fraunhofer-Gesellschaft e.V. mit ihren Instituten Fraunhofer IESE und Fraunhofer Fokus, ISE Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung mbH, LiveReader GmbH, BASF SE, Corevas GmbH & Co. KG, Advancis Software & Services GmbH, Apheris AI GmbH, Technische Universität Darmstadt sowie dem VfS Verband für Sicherheitstechnik und weiterer assoziierter Organisationen zusammen.
Ein Lagebild aus mehreren Ebenen
Neben Notrufannahme und Alarmierung ist auch die Koordination aller am Einsatz beteiligten Kräfte Aufgabe der Leitstellen und deren Mitarbeiter. Welche Einsatzkräfte aus welcher BOS-Einheit sind vor Ort, welche Möglichkeiten sind in welchen Krankenhäusern gegeben, welche Fahrzeuge und weitere Beteiligte wie etwa Abschlepp- oder Bergeunternehmen sind involviert? Dabei heißt es permanent den Überblick zu behalten, im gesamten Einzugsgebiet oder bei Bedarf sogar darüber hinaus. Die abgerufenen Echtzeitinformationen sollen dabei in einem Lagebild festgehalten und zum Abruf von übergreifenden Dienststellen und weiteren Leitstellen bereit stehen.
Aufgabe der Entwickler von SPELL ist dabei auch die Integration von bereits bewährten Verfahren wie beispielsweise der Echtzeit-Abgleich verfügbarer Krankenhauskapazitäten in Rheinland-Pfalz mit dem sogenannten „Zentralen Landesweiten Behandlungskapazitätennachweis“, kurzgefasst im Akronym ZLB. Die vom Fraunhofer IESE entwickelte, web-basierte Anwendung ermöglicht eine überregionale Zusammenarbeit und bietet eine umfassende Ressourcenübersicht über die Behandlungs-, bzw. Versorgungskapazitäten der Krankenhäuser.
Entscheidungsunterstützung
Ein Entscheidungsunterstützungssystem (Decision Support System, DSS) ist ein computerbasiertes, interaktives System, das die Nutzer bei der Entscheidungsfindung unterstützten soll statt sie zu ersetzen, Daten und Modelle bestehender Einsätze als Grundlage verwendet und schließlich die Effektivität des Entscheidungsprozesses im Fokus hat, nicht die Effizienz.
In Leitstellen können solche Systeme Disponenten bei der Anrufannahme unterstützen. Bei einem Notruf führen sogenannte Notrufabfragesysteme Leitstellendisponenten durch den Fragenkatalog und machen einen Vorschlag, welcher Einsatzmitteltyp zum Einsatzort entsendet werden soll.
Prof. Dr. Ralph Bergmann, Projektleiter und Leiter des Themenfelds Erfahrungsbasierte Lernende Systeme an der Außenstelle des DFKI an der Universität Trier in einem ersten Zwischenbericht im Blog des Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering „Künstliche Intelligenz für das Notfallmanagement – Projekt SPELL erforscht KI-Plattform für Rettungsleitstellen“: „Mit KI-basierten Lösungen auf Basis einer umfassenden Daten- und Wissensgrundlage, lässt sich die Effizienz von Leitstellen signifikant steigern und letztlich Zeit gewinnen. So können die Gesundheit der Bevölkerung besser geschützt und Bedrohungen der kritischen Infrastruktur und systemischer Logistik-, Industrie- und Wirtschaftsbereiche früher erkannt und abgemildert werden. Mit SPELL möchten wir die relevanten Informationen aus bisher verteilten Quellen zusammenführen, sodass sie mit entsprechenden Anwendungen analysiert und aufbereitet werden können. Am Ende soll eine nachhaltige hybride Plattform geschaffen werden, auf der auch andere Anbieter neue KI-Dienste entwickeln und anbieten können.“
Ökosystem soll in BOS-Leitstellen etabliert werden
Das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) mit 12 Mio. Euro geförderte Projekt SPELL läuft seit Juni 2021 über einen geplanten Zeitraum von drei Jahren bis 31.05.2024. „Nach der Projektlaufzeit und der Erprobung soll die SPELL-Plattform dauerhaft produktiv betrieben und nach und nach zu einer verteilten Infrastruktur ausgebaut werden. Sie soll als zentrale KI-basierte Informationsplattform für die ca. 250 BOS-Leitstellen in Deutschland etabliert und ebenso in Industrie-, Campus- und Gebäudemanagementsysteme integriert werden. Durch Standardisierung und Offenheit der Plattform soll ein umfassendes Ökosystem geschaffen werden, für das ein nachhaltiges Geschäfts- und Betriebsmodell umgesetzt wird“, teilt das DFKI kurz nach dem Projektstart im Juli 2021 mit.
Der Stand der Dinge
Wir haben uns beim Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern über den Stand der Dinge erkundigt. Dr. rer. nat. Eric Rietzke vom Forschungsbereich „Smarte Daten & Wissensdienste“: „Künstliche Intelligenz soll dabei helfen, aus vielen einzelnen Informationen schnell ein Lagebild zu erstellen. Die Rolle der KI ist die eines Co-Piloten. Die Entscheidung selbst muss immer noch von Menschen getroffen werden.
In der aktuellen Ausgabe Feuerwehr Fachjournal im Fachbeitrag alle Informationen zum Projekt SPELL lesen. Auf über sechs Seiten mit vielen Grafiken und Erklärungen zu Nutzen und Aufgabe in Leitstelle und Einsatz, zur semantischen Technologie als Grundlage, zur Organisation Gaia-X, Schichtenmodell, Datenmanagement, Daten- und Informationsquellen, KI-basierte Mehrwertdienste zur Entscheidungsunterstützung, Verwertung von Daten und Diensten, Verständigung auch bei unterschiedlichen Sprachen von Anrufer und Disponent, Ablauf in der Leitstelle, Herausforderung Informationsflut, Nutzung von Drittdiensten, Einbindung und Umsetzung und die weiteren Ziele zur Realisation bis hin zur Bedienung und Schulung der Disponenten.
Anhand von beispielhaften Ereignissen – vom Notruf zur Notfallage einer einzelnen Person bis hin zu Großschadenslagen über mehrere Leitstellen hinweg – wird in Ausgabe 4/2023 Feuerwehr Fachjournal auf die Möglichkeiten einer semantischen Plattform wie sie SPELL bieten kann detailliert eingegangen.